Volksgarten
Chronik

Im östlichen Stadtgebiet von Leipzig liegt der Ortsteil Sellerhausen. Er wurde frühzeitig, am 01. Januar 1890, nach Leipzig eingemeindet. Die westliche Grenze von Sellerhausen zu Neustadt und Volkmarsdorf verläuft heute im Zuge der Bennigsenstraße und der Graßdorfer Straße, entlang dem alten Kohlweg von Schönefeld.


Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entstanden im Gebiet zwischen Volkmarsdorf, Schönefeld und Sellerhausen die ersten Gründerzeithäuser. Im Jahr 1894 sind sowohl der Volksgarten Sellerhausen - im Stil eines englischen Gartens nach Plänen von Gartendirektor Otto Karl Wittenberg - als auch die ersten Schrebergärten entstanden.


Den ersten Garten auf dem Kohlstück am Alten Bahnwärterhäuschen an der Querung der Torgauer Straße mit der 1878 fertiggestellten Verbindungsbahn zwischen Hauptbahnhof und Bayrischem Bahnhof (Leipzig-Hofer-Verbindungsbahn) legte am 07. November 1897 der Oberpostschaffner Pilz an. Das Grundstück gehörte dem Bauern August Witzig. Das ganze Gelände war von einem Zaun umgeben. Um das Land betreten zu können, wurde eine Holztreppe angelegt. Das alte Bahnwärterhäuschen wurde abgerissen und befand sich unweit des heutigen. Bald bekam der erste Gartenfreund Nachbarn.


Nacheinander siedelten sich der Oberlehrer Neumann und die Gartenfreunde Max Birkigt, Richard Köcher und Karl Starke an.


Durch die Errichtung weiterer Gärten musste anstelle der Holztreppe ein befahrbarer Weg angelegt werden.


Max Birkigt übernahm den Verkauf von Flaschenbier, den später der Gartenfreund Robert Marx weiterführte. 1904 führte der Gartenfreund Paul Weiße den Bierausschank fort. Der nunmehr stärker werdende Besuch veranlasste ihn, seine Laube durch einen Anbau zu vergrößern.


Rege Nachfrage nach Flaschenbier, später Fassbier, setzte ein. Interessant sind einige Preise von damals. So kosteten ein Paar Wiener mit Brötchen 12 Pf. und ein Schnaps 5 Pf.


1919 kaufte sich der Gartenfreund eine Baracke mit einer verglasten Vorderfront. Die Geselligkeit wuchs zunehmend. Es bildete sich ein Klub namens "Little Popo", der im Garten von Oskar Mitscherlich oft zusammenkam. Es entstanden die ersten Lauben.


Da sich auch die Anzahl der Kleingärtner ständig vergrößerte, wurde 1906 der Schreberverein "Volksgarten" gegründet.


Bekannt ist, dass der erste Vorsitzende ein Lehrer war, dessen Namen nicht überliefert ist. Nachfolger wurde Emil Böttcher im Zeitraum ab 1910.


Nach dem Ersten Weltkrieg wurde am 06. August 1919 die Satzung beim Amtsgericht Leipzig eingereicht. Die Eintragung unter der Bezeichnung "Kolonie Volksgarten" Leipzig-Sellerhausen in das Vereinsregister erfolgte am 20. Oktober 1919 mit dem Vorsitzenden Otto Zöger. Die "Kolonie Volksgarten" trat dem Kreisverband der Schreber- und Gartenvereine e. V. bei.


Mehrere Male im 20. Jahrhundert war das Areal des Gartenvereins in Bebauungsplänen der Stadt Leipzig für das Gebiet zwischen den Eisenbahnlinien nach Eilenburg und Dresden sowie der Torgauer Straße und der Permoserstraße ausgewiesen. Im ersten Plan von 1913 war vorgesehen, dass ein innerer und ein äußerer Straßenzug das Zentrum des Gebietes von Süden her halbkreisförmig umfassen.


Zwischen beiden Straßenzügen lag im westlichen Teil das Vereinsgelände. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden einige viergeschossige Putzbauten lediglich im südlichen Teil des Außenrings, u. a. an der Portitzer Straße, errichtet. Danach wurden die Bauarbeiten nicht fortgeführt.


Das Vereinsgelände an der Torgauer Straße und der Bahnlinie (alte Anlage) vergrößerte sich durch die Pachtung eines Grundstücks entlang der Westseite der Portitzer Straße. Verpächterin war Frau Bertha Anna verw. Breitling, geb. Bautzmann. Mit der neuen Anlage entstand nunmehr eine zusammenhängende Fläche von ca. 6,28 ha.


Während die alte Anlage auf aufgeschüttetem Gelände errichtet wurde, steht die neue Anlage auf gewachsenem Boden.


Durch die Vergrößerung des Gartenvereins stand die Problematik der Wasserversorgung zunächst im Vordergrund. Es wurden Brunnengemeinschaften gebildet, die Brunnen anlegen ließen.


Durch die räumliche Vergrößerung war es nun auch möglich, die Kantine an einen neuen Ort zu verlegen. Im Herbst 1921 konnte sie am neuangelegten Spielplatz für die Kinder eingeweiht werden. Der Kinderspielplatz sollte ab sofort auch jedes Jahr rege genutzt werden.


Der Gartenverein wandte sich 1920 mit der Bitte an das Stiftungsamt beim Rat der Stadt Leipzig, einen Betrag für die Durchführung regelmäßiger Spieltage für rund 150 bis 200 Kinder an drei Tagen in der Woche unter Aufsicht eines Spielleiters aus der Stiftung eines Menschenfreundes zur Verfügung zu stellen. Weiterhin soll ein Teil des Geldes für die Anschaffung von Spielgeräten sowie für die tägliche Versorgung der Kinder mit Milch und Suppe innerhalb von vier Wochen verwendet werden. Für die Beschaffung von Reifen, Bällen und verschiedenen anderen Spielgeräten wurden 116,40 Mark sowie für einen Sprungständer nebst Sprungbrett 95,00 Mark vom Verein 1920 verauslagt.


Eines der ersten Ziele des Vereins "Kolonie Volksgarten" war die Jugendpflege. Aus diesem Grund wurde auch der ca. 1.600 m² große Spielplatz hergerichtet. Zur Verschönerung desselben und zur baldigen Beschattung an Sommertagen wurden 1921 vom Verein aus den städtischen Gartenanlagen zehn Laubbäume zum Preis von 100 Mark bezogen. Der Verein lieh sich hierzu ein Zelt aus. Für das Sommer- und Kinderfest 1922 wurde ein Straßenumzug mit Musik arrangiert.


Vom Schulhof in der Konradstraße führte er über Torgauer Straße, Eisenbahnstraße, Schützenhausstraße, Wurzner Straße, Geißlerstraße, Bülowstraße, Torgauer Straße bis zum Festplatz im Verein.


1923 übernahm Richard Deim den Vorsitz der "Kolonie Volksgarten". Unter seiner Regie wurde 1927 eine neue Toilettenanlage im Fachwerkbau errichtet.

Im Jahar darauf kam der Neubau einer Kinderspielhalle in Holzbauweise zur Aussführung. Die Bauleitung zu beiden Vorhaben lag im bewährten Händen des Gartenfreundes und Architekten Erich Zimmermann. Die rege Bautätigkeit wurde fortgesetzt.


1928 beantragte man die Errichtung eines Geräteschuppens auf dem Wirtschaftshof hinter dem Vereinsheim. Auch seitens der Stadt wurden die Planungen für Bebauungen im Sellerhäuser Stadtteil wieder aufgenommen.


Nach 1913 wurde 1925 ein zweiter Bebauungsplan aufgestellt. Auch dieser wurde - wie der erste - nur im Ansatz und zum Vorteil der "Kolonie Volksgarten" verwirklicht (Einfamilienhäuser der Mariannensiedlung am Rosmarin- und am Tulpenweg östlich des Gartenvereins).


Nach dem Antritt von Gustav Buchert als Vorsitzender erfolgte am 07. November 1927 die Umbenennung in "Schreberverein Volksgarten" e. V. Leipzig-Sellerhausen. Die nun vorhandenen Räumlichkeiten konnten von den Vereinsmitgliedern in vielfältiger Weise genutzt werden. Neben dem  Mitglieder- und Jahreshauptversammlungen wurden z. B. auch allgemeinverständliche Vorträge über die Bodenkultur mit anschließenden Diskussionen gehalten.


Um auch mit der technischen Entwicklung Schritt zu halten, wurden die ersten Elektrokabel verlegt. Die Bewirtschaftung der Kantine lag in den Händen von Max Große. Die Weihnachtsfeiern fanden immer regen Zuspruch, besonders natürlich bei den Kindern.


In den zwanziger Jahren wurden die Feiern oft im "Rheingold" (Trojahn´s Schützenhaus) durchgeführt. Im Zuge der Gleichschaltung ist der Name am 29. Mai 1934 erneut geändert worden, nun in "Kleingärtnerverein Volksgarten".


Bis 1933 stand Anton Zaborowski dem Verein vor und musste die Leitung an den Herrn Polizei-Oberkommissar Richard Reinhold, genannt der "Fürst", abgeben, der bis 1936 amtierte. Er leitete 1935 den Bau eines neuen Vereinsheimes in die Wege.


Der Verein erhielt einen Zuschuss von der Stadtverwaltung, konnte aber doch die Kosten des Baues nicht aufbringen. Herr Reinhold löste deshalb den mit der Brauerei Ulrich bestehenden Vertrag und schloss einen neuen mit der Brauerei Naumann ab, die dem Verein ein Darlehen von 12.000 Mark gewährte.


In der Spielhalle hatte man in dieser Zeit eine kleine Bühne für die Aufführungen errichtet, wo auch die Musikgruppe des Vereins übte. In ihr wurden auch Preisskat- und Preiskegelturniere abgehalten.


Im Gartenverein gab es auch eine Frauengruppe, die sich jeden zweiten Dienstag im Monat zusammenfand. Im Rahmen dieser Zusammenkünfte wurde immer Vorträge mit interessanten Themen gehalten.


Zu den Sommerfesten gab es stets eine Tombola, die sich größter Beliebtheit erfreute. Für die Tombolen spendeten viele Gartenfreunde wertvolle Geschenke. Die überwiegende Anzahl der Mitglieder des Vereins kam aus dem Mittelstand und besaß Geschäfte u. a. in der Eisenbahnstraße und in der Wurzner Straße.


Dem "Fürsten", der sein Amt auf Grund von Differenzen mit dem Stadtgruppenführer des Reichsverbandes der Kleingärtner, Hupfer, niederlegte, folgten an der Vereinsspitze 1936 Kurt Ulrich (Oberingenieur), 1937 Fritz Thaßler und 1938 Albert Harnisch.


Folgende Begebenheit aus jener Zeit:


Am 19. Oktober 1936 fand in der Spielhalle des Vereins eine Mitgliederpflichtversammlung statt. Thema des Abends war ein Vortrag über das Grenzlanddeutschtum. Als Vortragender gab der Volkstumwart Lehrer Walter Voigt seine Zusage. In einem vorherigen Schreiben wurde er als Parteigenosse bezeichnet. Dies stellte sich noch vor der Veranstaltung als Irrtum heraus und rief die entsprechenden Organe zur vertraulichen Überwachung des Vertrags auf den Plan. 


Vor etwa 250 Personen referierte der Redner im Vereinsheim rund eine Stunde über das oben genannte Thema. Die Ausführungen des Nicht-Parteigenossen waren inhaltlich und in ihrer Wiedergabe im Sinne der Machthaber. Trotz akribischer Verfolgung aller Passagen war die Rede nicht zu beanstanden, so dass dem Vortragenden keine persönlichen Nachteile erwachsen konnten.


Während des Zweiten Weltkrieges wurden für die Kinder, soweit wie möglich, Milchkolonien durchgeführt. Der Krieg hinterließ auch im Gartenverein tiefe Spuren in den Menschen und im Vereinsgelände. Viele kehrten von den Kriegsschauplätzen nicht mehr zurück in die Heimat. Auch in der Nachkriegszeit hatte der Verein immer mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, besonders was die Bewirtschaftung der Kantine anbelangte. Durch den allgemeinen wirtschaftlichen Tiefstand konnten die Wirte nicht genügend Umsatz erzielen, so dass sie häufig wechselten. Nach dem Krieg wurde der Verein am 11. September 1946 aufgelöst und aus dem Vereinsregister gelöscht.


Anton Zaborowski wurde 1947 zum ersten Nachkriegsvorsitzenden des Kleingartenvereins gewählt. Der mühsame Wiederaufbau begann. Von einem Gartenfreund aus der benachbarten Siedlung "Tulpenweg" erhielt der Verein als Geschenk ein Planschbecken. Im Rahmen der alljährlichen Obst- und Gemüsespendensammlung stellt der Verein z. B. 1948 für die Bevölkerung 400 kg Obst und 150 kg Gemüse zur Verfügung.


Ein 1948 erarbeitetes Projekt der Stadt für das Bebauungsplangebiet Sellerhausen-Nord sah vor, dass die Trasse einer Stadtbahn die nördliche Spitze der Vereinsfläche an der Torgauer Straße/ Portitzer Straße aus Richtung Schönefeld kommend schneidet und in einer leichten Krümmung südostwärts gerichtet (zur Eilenburger Bahnstrecke) fortgeführt wird. Dieses Vorhaben wurde nicht in Angriff genommen.


Nach Zaborowski übernahm Fritz Ludwig die Vereinsleitung. Unter seiner Regie wurde der Bau der Ringwasserleitung in Angriff genommen. Nach seinem Ableben 1954 vollendete der neue, alte Vorsitzende Albert Harnisch dieses umfangreiche Vorhaben.


Viele packten mit an. Gemeinsam wurden zahlreiche kleine Aufgaben realisiert und die Hinterlassenschaften des Krieges beseitigt. Nach der Arbeit fanden sich viele Mitglieder in mehreren "Spielklubs" zusammen. Diese gehören bis heute zum festen Bestandteil des Vereinslebens.


Im 1963 aufgestellten Bebauungsplan der Stadt für das Gebiet Sellerhausen-Nordwest war das Terrain des Vereins aber nicht mehr für eine Bebauung vorgesehen. Dafür drohte Ende der sechziger/ Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts erneut Ungemach für den Fortbestand des Gartenvereins "Volksgarten" e. V. Dieses Mal drohte Gefahr vom benachbarten Stadtteil Schönefeld her. Neben den geplanten 4332 Wohneinheiten war ein Studentenwohnheim vorgesehen, das an der Portitzer Straße errichtet werden sollte und dem Verein einen bedeutenden Teil seiner Fläche gekostet hätte. Durch massive Proteste, auch der Kleingärtner, wurde eine Überarbeitung der Bebauungspläne erreicht, so dass sich das gesamte Neubaugebiet auf Schönefelder Flur befindet. Damit blieb dem Gartenverein "Volksgarten" e. V. das Schicksal benachbarter Kleingartenanlagen in Schönefeld erspart, welche große Flächen einbüßten oder sogar gänzlich aufhörten zu existieren.


Die Kinder- und Sommerfeste gehörten auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den jährlichen Höhepunkten. Sie mussten zwar zeitweise als "Wohngebietsfeste" bezeichnet werden. Aber das war nur von untergeordneter Bedeutung.


Bedeutender war indes die Absicherung der Feste mit Speisen, Getränken und "Zubehör". Zu diesen Anlässen erhielt die Vereinsgaststätte Sonderkontingente an Fleisch- und Wurstwaren sowie an Bier und alkoholfreien Getränken. Oftmals musste trotzdem Fehlendes organisiert werden. Zum Beispiel fällt das Grillen ohne Holzkohle aus. So wurde dieser rare Artikel über mehrere "Ecken" durch einflussreiche Mitglieder des Vereins beschafft,  nachdem der offizielle Weg gescheiter war.


Auf den "Wohngebietsfesten" konnten Gartenfreunde und Gäste sogar Obst und Gemüse kaufen, welches am Vortag in den Verkaufsstellen von Konsum und HO vergeblich suchte.


Die Weihnachtsfeiern stellten einen weiteren besonderen Höhepunkt im Gartenjahr dar. Die Kinder waren jedes Mal schon Tage zuvor mächtig aufgeregt, mancher oder manche konnten vielleicht nur unruhig schlafen. Aber jedes Kind hatte seinen persönlichen Weihnachtsmann.


FORTSETZUNG FOLGT...